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Mystik

 

Allgemeine Informationen Mystik, Zen und Sufismus

 

Mystik, vom lateinischen mysticus: unbeschreiblich, unaussprechlich, geheimnisvoll; bzw. dem griechischen Wort mystikos zu myein: Augen und Lippen schließen bezeichnet die Suche und Erfahrung einer höchsten Wirklichkeit.

Religionsgeschichtlich versteht man unter Mystik eine Sonderform religiöser Praxis, die auf etwas Transzendentes ausgerichtet ist. Die bei der Praxis gewonnenen mystischen Erfahrungen werden im Rahmen des individuellen Kontexts ausgedrückt. Beispielsweise ist das transzendente Element in theistischen Kontexten normalerweise Gott.

Eine mystische Gotteserfahrung kennen u.a. Strömungen des Judentums, des Christentums und des Islams. In den östlichen Religionen Buddhismus, Jainismus und teilweise im Daoismus werden mystische Erfahrungen einer letztendlichen Wirklichkeit ohne Bezug auf eine göttliche Wesenheit formuliert.

Im christlich geprägten Europa der letzten fast zweitausend Jahre konnten sich besondere Menschen nur ihm strengen Rahmen der katholischen Kirche bewegen, die argwöhnisch mystische Entwicklungen teils vereinnahmte, gerade noch duldete oder als Häresie unterdrückte und Ketzer ermordete.

Folgend eine Aufzählung einiger Mystiker:

Augustinus von Hippo (354-430), Hildegard von Bingen (1098-1179) , Franz von Assisi (1182-1226), Mechthild von Magdeburg (1207/10-1282/94) und Mechthild von Hackeborn (1241/42-1299), sowie Bernhard von Clairvaux, Gertrud von Helfta (1256-1301/2), der Kirchenlehrer und Franziskanertheologe Johannes Bonaventura (vor 1221-1274), der deutsche Theologe und Philosoph Meister Eckhart (1260 - 1328), der deutsche Mystiker Johannes Tauler (†1361), der zu Zeiten der Pest in Straßburg wirkte und einer stark nachgefragten privaten Frömmigkeit entgegenkam mit seiner Predigt von der Einheit des Menschen mit Gott (unio mystica), die aktiv zu betreibende ethische Vervollkommnung erfordert. Heinrich Seuse (1295–1366), begeisterter Schüler Eckharts: diesen verteidigt er gegen Kritiker und wettert selbst gegen die Brüder des freien Geistes, später gerät er wie Eckhart unter Häresieverdacht. Er gehörte der Laienfrömmigkeit einer nicht organisierten Gemeinschaft von Männer und Frauen an, die ethische Erneuerung und nicht klerikal gebundene Frömmigkeit suchten. Niklaus von Flüe (Bruder Klaus) (1417–1487) zählt zu den letzten spätmittelalterlichen Mystikern. Wegen des päpstlichen Schismas waren weite Teile der Schweizer Eidgenossenschaft exkommuniziert, was Laienbewegungen Aufschwung brachte. Sebastian Franck (1499-1542/3), die spanische Mystikerin Theresa von Avila (1515–1582) gründete Karmelitinnenklöster, darunter das erste Frauenkloster Spaniens, wirkte aktiv in der Seelsorge und verfasste geistliche Texte. Johannes vom Kreuz (1542–1591) wurde durch Theresa von Avila für Reformen des Karmelitenordens gewonnen, lebte streng asketisch und suchte eine leidenschaftliche Spiritualität. Jakob Böhme (1575-1624), Angelus Silesius (1624-77).

Auch moderne, christliche bzw. dem Christentum nahestehende Denker schreiben erfahrungsbezogen über "Mystik": etwa der Naturphilosoph Carl Friedrich von Weizsäcker, der Logiker und Philosoph Ludwig Wittgenstein: "Nicht WIE die Welt ist, ist das Mystische, sondern DASS sie ist." - "Es gibt allerdings auch Unaussprechliches. Dies ZEIGT sich, es ist das Mystische". "Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen." Sowie z.B. Pierre Teilhard de Chardin, Hugo Makibi Enomiya-Lassalle, Anselm Grün, Dag Hammarskjöld, Dorothee Sölle, David Steindl-Rast, Jörg Zink und der Benediktiner Willigis Jäger.

Auch nach den älteren hinduistischen Lehren ist eine Einheitserfahrung mit dem göttlichen Brahman möglich, diese Erfahrung ist in Worten kaum wiederzugeben, da Begriffe sie nicht fassen. Typische Beschreibungen bedienen sich Metaphern wie: das Bewusstsein weitet sich ins Unendliche, es ist ohne Grenzen, man erfährt sich aufgehoben in einer Wirklichkeit unaussprechlichen Lichts und unaussprechlicher Einheit (Brahman). Dieser Einheitserfahrung entspricht die Lehre der Einheit von Atman ("Seele") und göttlichem Brahman.

Dieses Einssein wird von verschiedenen Vertretern unterschiedlich aufgefasst:

pantheistisch: Wie ein Salzklumpen sich im Wasser auflöst, gehe der Atman im göttlichen Brahman auf.

panentheistisch: Die Seelen behalten einen Eigenstand, wenngleich mit dem Brahman unauflöslich verbunden.

monotheistisch: Einheit in Vielfalt. Qualitative Einheit und gleichzeitige individuelle Vielfalt, die der Seele eine ewige mystische Liebesverbindung mit Gott ermöglicht (Vishishta-Advaita).

Nach hinduistischer Lehre ist die alltägliche Wahrnehmung auf Vieles gerichtet, die mystische Erfahrung aber eine Einheitserfahrung. Das göttliche Eine ist in Allem gegenwärtig, jedoch nicht einfachhin erfahrbar. Es zu erfahren setzt voraus, die Wahrnehmungs-Art zu ändern. Dazu dienen Konzentrationstechniken des Yoga und die Askese (Enthaltung, Verzicht). Askese führt zur Freiheit gegenüber weltlichen Bedürfnissen.

In der buddhistischen Mystik, die insbesondere in den Strömungen des Mahayana und Vajrayana verbreitet ist, geht es wie in allen buddhistischen Schulen nicht um direkte Erfahrung eines göttlichen Wesens. Die Natur des Geistes wird als nicht-dual verstanden. Dies ist jedoch in der Regel nicht bewusst und wird durch das Anhaften am Ich verschleiert. Aus dieser grundlegenden Unwissenheit entsteht die Vorstellung eines unabhängig von anderen Phänomenen existierenden Ichs.

Damit geht das Auftreten der Geistesgifte Verwirrung/Unwissenheit, Hass, Gier, Neid und Stolz einher, die Ursachen allen Leidens. Ziel ist es, die Geistesgifte in ursprüngliche Weisheit umzuwandeln, die Ich-Vorstellung aufzulösen und die den unerleuchteten Wesen eigene Aufspaltung der Phänomene in Subjekt und Objekt zu überwinden. Die den fühlenden Wesen innewohnende, bis dahin verschleierte Buddhanatur wird als immer schon zugrundeliegend erkannt. Wer dies erreicht wird erleuchtet oder schlicht Buddha genannt. Praktiken wie Meditation, Gebet, Opferdarbringungen, verschiedene Yogas und spezielle tantrische Techniken sollen dies ermöglichen.

Vertreter des Sufismus (islamische Mystiker) lehren, dass Gott in jeden Menschen einen göttlichen Funken gelegt hat, der im tiefsten Herzen verborgen ist. Dieser Funke wird durch die Liebe zu allem, was nicht Gott ist, verschleiert, etwa durch Wichtignehmen der (materiellen) Welt, sowie durch Achtlosigkeit und Vergesslichkeit. Nach dem Propheten Muhammad sagt Gott den Menschen: „Es gibt siebzigtausend Schleier zwischen euch und Mir, aber keinen zwischen Mir und euch.“

Im Judentum hat die Mystik besonders in der Kabbala eine breite Tradition. Die Wurzeln der Kabbala finden sich in der Tora, der Heiligen Schrift des Judentums.

Die Basis des kabbalistischen Systems ist das Grundverständnis einer seit jeher im orientalischen Kulturraum verbreiteten Emanationslehre. Nach kabbalistischer Ansicht hat Gott alles, was er im Universum geschaffen hat, auch am Menschen geschaffen. Hieraus ergibt sich das Weltbild der wechselseitigen Entsprechungen von Oben und Unten. In diesen Spekulationsformen wird der kabbalistische Grundgedanke von Mikro- und Makrokosmos deutlich: die ganze "untere" Welt wurde demnach nach dem Vorbild der "oberen" gemacht und jeder Mensch an sich ist ein Universum im Kleinen.

Kabbalistische Erfahrung kann die Grenze zwischen Subjekt und Objekt aufheben. Ein Kabbalist durchbricht die Mauer „härter als ein Diamant" und erfährt die All-Einheit. Insofern gibt es verschiedene kabbalistische Schriften und Schulen, aber keine Dogmatik oder abprüfbaren Lehrinhalt. Es gibt keine allgemeingültige kabbalistische Lehre. Aber es gibt kabbalistische Techniken. Dementsprechend ist alle schriftliche Hinterlassenschaft der Kabbalisten stark symbolisch.

Carl Gustav Jung versteht Mystik als religionsunabhängige innere Kontemplation jenseits der Spaltung in verschiedene Konfessionen und Bekenntnisse. Ein Vorbild für ihn ist der Schweizer Mystiker Niklaus von Flüe (Bruder Klaus) und der, einem säkularen Judentum nahestehende, von Meister Eckhart beeinflusste Philosoph Erich Fromm.

Ken Wilber vereint in seinen Werken Ansätze aus Religionen, Philosophien, Geistes- und Naturwissenschaft. Schwerpunkte sind die östlichen Philosophien, westliche Psychologie und die Systemtheorie. Er bezieht sich dabei insbesondere auf Jürgen Habermas und Jean Gebser.

Weltabgewandtheit durch die Vermeidung von körperlichen Freuden durch Fasten, Askese und Zölibat oder durch den Rückzug in die Einsamkeit als Eremit hat in vielen Religionen eine lange Tradition. Oft wird beansprucht, eine solche Haltung sei Vorbedingung mystischer Erfahrung. Andere Traditionen betonen die Zusammengehörigkeit von Kontemplation und aktivem Leben. Die christliche Theologie spricht in diesem Zusammenhang von "vita activa" und "vita passiva". Beide Seiten gehören etwa für Meister Eckhart stets zusammen. Teilweise wird auch ein wesentlicher Zusammenhang von Mystik und Politik beansprucht, wie er sich etwa bei Nikolaus von Flüe und Meister Eckhart findet. Auch Traditionen des Zen betonen, dass Spiritualität und Alltag nicht entkoppelt werden dürfen. Auch der Zen-Meister Willigis Jäger betont: "Ein spiritueller Weg, der nicht in den Alltag führt, ist ein Irrweg."

In der mystischen Erfahrung lassen sich Erfahrung und Erfahrenes unterscheiden. Die christliche Mystik bezeichnet die Erfahrung als Mysterium oder Unio Mystica, im buddhistischen Kulturraum wird sie etwa als Satori oder Kensho benannt, im hinduistischen Raum als Nirvikalpa Samadhi. Sie bezieht sich immer auf das Erfahrene, die höchste Wirklichkeit, die im christlichen Kulturraum mit Gott, im buddhistischen Raum etwa mit Nirwana, im hinduistischen Raum mit Atman/Brahman bezeichnet wird. Diese höchste Wirklichkeit wird stets vor dem spezifischen individuellen Hintergrund wie etwa Religion, Kultur, Wissenschaft erfahren.

Die von religiösen Strömungen im Judentum und Christentum beanspruchte mystische Erfahrung wird als Glaubenserfahrung verstanden, als intensive Form der Spiritualität. Dabei wird teilweise beansprucht, das Göttliche nicht mehr personal zu erfahren.

Viele Berichte von mystischer Erfahrung betonen, dass kein Begriff und keine Aussage das Erfahrene auch nur annähernd beschreibt. Das Erfahrene ist, abhängig von soziokulturellen Bedingungen, vielfältig umschreibbar.

Vor theistischem Hintergrund liegt der Name Gott nahe. Atheisten sprechen etwa von der wahren Natur allen Seins oder der tiefen kosmischen Einheit aller Dinge. Gleichwohl heben viele Beschreibungen die Erfahrungsweise von weltlicher Objekterkenntnis ab. Beispielsweise, da hier kein Ich einem Höheren gegenüberstehe, sondern von diesem Höheren "umfasst" werde. Bei gleichzeitiger Nichtbenennbarkeit und dem Verlangen, von der Erfahrung dennoch nicht nur zu schweigen, bedient sich Mystik oft ungewöhnlicher Stilmittel.

Verschiedene biblische Texte sprechen von der Entzogenheit, Unsichtbarkeit, Nichtabbildbarkeit und Unnennbarkeit Gottes.

Buddha hat das mystisch Erfahrene nicht als göttlich bezeichnet. Die höchste Wirklichkeit sei kein göttliches Wesen, das mit Verstand und Willen ausgestattet sei und handele, sondern alles überstrahlender Friede und Glückseligkeit.

Von Thomas von Aquin, dem wirkungsgeschichtlich bedeutenden mittelalterlichen Theologen, wird legendarisch berichtet, er habe nach einer mystischen Erfahrung seine Bücher verbrennen wollen, da er dadurch erkannt habe, dass alle Gott zuschreibbaren Begriffe mehr falsch als richtig sind. Tatsächlich reflektiert die thomanische Analogielehre die Beschreibbarkeit und Unbeschreibbarkeit Gottes.

Mystiker sprechen in der Regel von ihrer Erfahrung in Bildern ihres Kulturkreises. Dies haben sie mit jeder Erfahrung und jeder Versprachlichung von Erfahrung gemein. Viele Mystiker betonen zudem die Notwendigkeit, von allen Bildern zu lassen. Bekannt dafür ist in christlichen Kontexten Meister Eckhart. Der historische Buddha soll seine Schüler mit folgenden Worten motiviert haben, von den Erscheinungsbildern zur eigentlichen Erleuchtung weiterzugehen: ’’Wenn dir Buddha begegnet, töte ihn.’’

Halluzinationen sind Erlebnisse, welche die Psyche im Wachzustand produziert. Daher sind sie von mystischen Erlebnissen schwer unterscheidbar. Anhand einer Reihe von Merkmalen wie Inhalte der Erfahrung, Dauer, Kommunikationsfähigkeit, Ausdruck, Vokabular und Emotionalität versucht man Unterschiede zwischen mystischen und psychotischen Zuständen zu fassen.

Die mystische Erfahrung ist weder eine Erfahrung im schlafenden Zustand, noch eine im trancehaften Zustand oder der Hypnose. Diese Zustände zeichnen sich besonders durch eine auf bestimmte Bewusstseinsinhalte eingeschränkte Aufmerksamkeit aus. Das Erlebnis mystische Erfahrung wird dagegen oft als sehr wach und aufmerksam beschrieben.

Der mystische Weg innerhalb der christlichen Religion ist fast so alt wie das Christentum selbst. Das 40-tägige Fasten Jesu in der Judäischen Wüste, bei dem ihm der Satan erschien, weist darauf hin.

Die Vertreter der kontemplativen Tradition blieben lange eine mehr geduldete als geachtete Randgruppe innerhalb des Christentums, da es teilweise Differenzen zu den dogmatischen Ansichten der katholischen Kirche beim Gottesbegriff gab.

Angestrebt wird die unmittelbare Einswerdung mit Gott (Unio Mystica). Das Ich wird - im Gegensatz zu fernöstlichen Philosophien - in der Einswerdung mit Gott nicht aufgegeben, sondern gerade in dieser geheimnisvollen Einung besteht eine ureigene Individualität, man könnte geradezu sagen, es kommt in dieser Vereinigung gerade besonders zu einer echten und tiefen Selbstfindung des wahren Ich, wie es von Gott her gedacht und geschaffen ist.

Die christliche Mystik basiert auf dem Neuplatonismus in seiner christlichen Umprägung. Die wichtigsten Philosophen, die den spätantiken christlichen Neuplatonismus ins Mittelalter weitergaben, waren Augustinus und Dionysius Areopagita. Im Westen waren ebenfalls die Klöster die Zentren der Mystik. Nonnen und Mönche verschiedener Orden widmeten sich der Kontemplation und schrieben Texte über ihre Erfahrungen. Ihre Hochblüte hatte die christliche Mystik im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit. Obwohl die Reformation mit der Tradition der katholischen Kirche brach, kam es bald auch in den protestantischen Gebieten zu mystischen Bewegungen. In der modernen Theologie findet sich der Gedanke der Mystik in den Überlegungen zum Pantheismus (Gott und Welt sind eins) und zur negativen Theologie. Letztere weist darauf hin, dass Gott nur erfahren und nicht beschrieben werden kann.

Im Gegensatz zu vielen Formen östlicher Meditation, bei der der Schüler (hier auch Sucher genannt) versucht, seinen Geist zu leeren, um eins mit Gott zu werden, versteht die christliche Mystik unter Kontemplation ein sich Ausrichten auf einen bedingungslos liebenden Gott. Kontemplation ist Einübung einer Haltung. Die Erfahrung von Gottes Gegenwart kann nicht vom Betenden selbst hergestellt werden, sie ist Geschenk und reine Gnade.

Der Rinzai-Zen-Buddhismus, einige New Age-Bewegungen und das dem westlichen Lebensstil angepasste Eckankar gehen davon aus, dass es hilfreicher sei, eine innere Betrachtung, zum Beispiel liebevoller Gedanken, Postulate oder von Menschen die man liebt, aber auch einer Weisheit beziehungsweise eines Sinnspruches mit in die Kontemplation zu nehmen, als zu versuchen, den Geist vollkommen zu leeren. Diese Technik soll dem Gläubigen zum einen die Möglichkeit verleihen sich mit universeller Liebe anzufüllen. Am Ende soll ein bindungsloser Geist, ein freier Mensch stehen, der ähnlich wie in der buddhistischen Lehre keine Anhaftung mehr an das Ich kennt, wobei die reine meditative Lehre frei ist von ideologischen Verknüpfungen.

Häufig wird der Zen-Buddhismus als Religion bzw. Weltanschauung bezeichnet. Die Wurzeln des Zen liegen zwar im Buddhismus, doch fühlen sich viele Zen-Meister nicht an eine bestimmte Religion oder Weltanschauung gebunden. Der Kern des Zen befindet sich demnach nicht in religiösen oder philosophischen Systemen, sondern besteht in der mystischen Erfahrung.

Zen kann das Zeitempfinden verändern. In der Konzentration des Praktizierenden verliert die subjektive Empfindung für Zeit ihre Bedeutung. Die Konstruktionen bzw. Definition von Vergangenheit und Zukunft verliert ihren Einfluss auf das Bewusstsein. In dieser „Zeitlosigkeit“ wird das „Ich“ weniger oder gar nicht wahrgenommen. Zen proklamiert Nicht-(ich)-Sein. Die Aufmerksamkeit soll so weit wie möglich auf den Augenblick fokussiert werden, in dem das Bewusstsein „aufgeht“.

Oft wird gesagt, dass Zen „nichts“ biete: keine Lehre, kein Geheimnis, keine Antworten. In einem Koan spricht der Zen-Meister Ikkyû Sôjun zu einem Verzweifelten: „Ich würde gerne irgendetwas anbieten, um Dir zu helfen, aber im Zen haben wir überhaupt nichts.“

Zen bietet tatsächlich in dem Sinne „überhaupt nichts“, als dass es einfach nur das Gewöhnlichste, Alltäglichste und Normalste der Welt ist. Es bedeutet, das Leben zu leben – in seiner ganzen Fülle. Der unmittelbare Zugang zu diesem Einfachsten von allem ist dem Verstandeswesen Mensch jedoch versperrt – es scheint so, als ob die niemals schweigende Stimme der Gedanken ihn durch hartnäckige Ideen und urteilende Vorstellungen blockiere. Die permanente Beschäftigung mit sich selbst, die schützende Ich-Bezogenheit jedes einzelnen verursacht immer wieder nur neues Leiden (Dukkha). Zen kann diese Verwirrung lösen – zuletzt vermag man sogar zu essen, wenn man hungrig ist, zu schlafen, wenn man müde ist. Zen ist nichts Besonderes. Es hat kein Ziel.

Die Charakterisierung, Zen biete „nichts“, wird gerne von Zen-Meistern gegenüber ihren Schülern geäußert, um ihnen die Illusion zu nehmen, Zen biete erwerbbares Wissen oder könne etwas „Nützliches“ sein. Auf einer anderen Ebene wird hingegen auch das Gegenteil behauptet: Zen biete das „ganze Universum“, da es die Aufhebung der Trennung von Innenwelt und Außenwelt, also „alles“, beinhalte.

Ein anderer, ebenso wichtiger Teil der Zen-Praxis, besteht aus der Konzentration auf den Alltag. Dies bedeutet einfach nur, dass man sich auf das, was man gerade in diesem Augenblick tut, vollkommen konzentriert, ohne dabei irgendwelchen Gedanken nachzugehen.

Zen ist der weglose Weg, das torlose Tor. Die dem Zen zugrundeliegende große Weisheit (Prajna) braucht gemäß der Lehre nicht gesucht zu werden, sie ist immer schon da. Vermöchten die Suchenden einfach nur ihre permanenten Anstrengungen aufzugeben, die Illusion der Existenz eines „Ich“ aufrechtzuerhalten, würde sich Prajna unmittelbar einstellen.

Realistisch gesehen ist das Beschreiten des Zen-Wegs jedoch eines der schwierigeren Dinge, die in einem menschlichen Leben unternommen werden können. Den Schülern wird die Bereitschaft zur Aufgabe ihres selbstbezogenen Denkens und letztlich des Selbst abverlangt. So dauert der Übungsweg gewöhnlich mehrere Jahre, bevor die ersten Schwierigkeiten überwunden sind. Der Weg ist allerdings stets zugleich auch das Ziel, im Üben ist die Erfüllung stets gegenwärtig.

Primäre Aufgabe des Zen-Schülers ist die fortgesetzte, vollständige und bewusste Wahrnehmung des gegenwärtigen Moments, eine vollständige Achtsamkeit ohne eigene urteilende Beteiligung (Samadhi). Diesen Zustand soll der Zen-Schüler nicht nur während des Zazen, sondern möglichst in jedem Augenblick seines Lebens beibehalten.

„Zen ist nicht etwas Aufregendes,
sondern Konzentration auf deine alltäglichen Verrichtungen“
Shunryu Suzuki

Vor allem im Rinzai-Zen wird die mystische Erfahrung der Erleuchtung (Satori, Kenshō), ein oft plötzlich eintretendes Erleben universeller Einheit, d.h. die Aufhebung des Subjekt-Objekt-Gegensatzes, zum zentralen Thema. In diesem Zusammenhang ist oft von „Erwachen“ und „Erleuchtung“ (pali/sanskrit: Bodhi), vom „Buddha-Werden“, oder der Verwirklichung der eigenen „Buddhanatur“ die Rede. Diese Erfahrung der Nicht-Dualität ist der sprachlichen Kommunikation kaum zugänglich und kann auch einer Person ohne vergleichbare Erfahrung nicht vermittelt werden.

„Den Weg zu studieren heißt sich selbst zu studieren,
sich selbst zu studieren heißt sich selbst vergessen.
Sich selbst zu vergessen bedeutet eins zu werden mit allen Existenzen.“

Zen besitzt eine eigene Ethik. Im Mittelpunkt steht die Überzeugung, dass man anderen nur helfen kann, wenn man sich selbst befreit hat. Die Zuwendung zu anderen Lebewesen in sorgender Liebe (in der griechischen Agape verwandtem Sinn) und Solidarität ist dabei allerdings niemandem – keinem Gott, keinem Buddha, keiner Offenbarung oder Lehre – geschuldet, sondern erwächst aus der inneren Einsicht im Laufe der Zen-Praxis von selbst.

Wenn der Zen-Praktizierende zur Auffassung kommt, dass alles im Kosmos miteinander in Verbindung steht, so bedeutet dies für ihn, dass keine real existierende absolute Grenze zwischen dem einzelnen Übenden und allen anderen Menschen besteht. Hieraus folgt die Überzeugung, dass jede schädigende, aber auch jede helfende Handlung letztlich auf den Verursachenden zurückfällt. Die Ethik des Zen-Buddhismus kann insofern als „pragmatischer Altruismus“ charakterisiert werden.

Da im Zen Dualismen wie gut/böse oder falsch/richtig abgelehnt werden, kann es auch keine allgemein verbindlichen Vorschriften oder Gebote geben, auch wenn sich die Mönche in der Regel freiwillig zu solchen verpflichten. Die einzige gültige Maxime ist die allgemeine Förderung des Lebens, oder umgekehrt: die Vermeidung des Tötens. Eine große Rolle spielen dabei Mitgefühl und Mitleid mit den Mitwesen.

Im 19. und besonders im 20. Jahrhundert machten die Zen-Schulen in Japan rasante Veränderungen durch. Dabei wurde von Laien eine neue Form des Zen begründet. Diese erreichte Europa und Amerika und wurde ebenfalls inkulturiert und erweitert. Im 20. Jahrhundert wenden sich selbst einige christliche Mönche und Laien der Meditation und dem Zen zu, wodurch, zum Teil getragen durch autorisierte Zen-Lehrer, die dem Christentum verbunden blieben, das sogenannte "Christliche Zen" entstand.

Eine Übermittlung außerhalb jeglicher Doktrin, die sich weder auf Worte noch auf Schriften stützt.
Ein direktes Hinweisen auf des Menschen Herz: Wer sein eigenes Wesen schaut, ist ein Erwachter.
Buddha

Der Beginn mittelalterlicher pantheistischer Theologie innerhalb der Christentums liegt im frühen 13. Jahrhundert. Prägend waren Pariser Theologen wie David von Dinant, Amalrich von Bena und Ortlieb von Straßburg.

Amalrich von Bena, (um 1200) lehrte Philosophie und Theologie in der Pariser Universität, wo er großes Ansehen genoss. Seine pantheistischen Ideen, die wahrscheinlich von Johannes Scotus Eriugena und Dionysius Areopagita beeinflusst waren, sind nicht exakt fassbar, weil sie nur durch Zeugnisse anderer belegt sind.

Demnach lehrte er, dass „alles Existierende Gott ist“ (lateinisch: omnia sunt Deus) und dass „alle Dinge eins sind, denn was immer ist, ist Gott“ (omnia unum, quia quidquid est, est Deus). Gott ist unsichtbar und nur in seinen Geschöpfen sinnlich wahrnehmbar.

Daraufhin wurde er von der Pariser Universität wegen seiner pantheistischen Lehre der Häresie bezichtigt, musste sich 1204 vor Papst Innozenz III. verantworten und widerrief seine Lehre, kurz danach starb er.

Anhänger Amalrichs begannen zu lehren, dass "Alle Dinge eins sind, denn was immer ist, ist Gott." Im Jahre 1210 wurden die Amalrikaner von einem Agenten des Bischofs von Paris verraten und lebendig verbrannt. Danach wurden Amalrichs Gebeine ausgegraben, verbrannt und in alle Winde zerstreut. Auch das 4. Laterankonzil verurteilte 1215 seine Lehre.

Die Bewegung aber überlebte und ihre Anhänger radikalisierten sich. Zentrale katholische Glaubensvostellungen wie die der Schöpfung und Erlösung wurden zurückgewiesen. Da alles Gott sei, könne es auch keine Sünde geben, jedwede Handlung sei erlaubt. Die Brüder und Schwestern des Freien Geistes lehrten die "Freiheit des Geistes" in dem Sinne, dass die menschliche Seele über Kategorien wie Gut und Böse stünde. Dieses Argument ist der Lehre des buddhistischen Vajrayana ähnlich.

Die Lehre von Meister Eckhart kam derjenigen der Brüdern und Schwestern des Freien Geistes gefährlich nahe. Er entging jedoch der Exkommunikation, indem er im Jahre 1327 28 seiner beanstandeten Thesen zurückzog. Die Brüder und Schwestern des freien Geistes waren eine pantheistisch-mystische Glaubensgruppe im Mittelalter und wurde von Papst Clemens V. auf dem Konzil von Wien im Jahre 1311 als häretisch verdammt.

Sebastian Franck (1499 – 1543) war ein deutscher Chronist, Publizist, Geograph, Theologe und gilt als der bedeutendste mystische Schriftsteller des 16. Jahrhunderts. Er studierte in Ingolstadt und Heidelberg Theologie und wurde Priester. Unter dem Einfluss von Luthers Lehren trat er zum Protestantismus über. Ab dem Jahr 1526 wirkt er als lutherischer Pfarrer in Büchenbach bei Nürnberg und von 1527 bis 1528 als Pfarrer in Gustenfelden bei Schwabach. 1528 sagte er sich von allen Konfessionen los und entwickelte eigene Ideen eines dogmenfreien Christentums des Herzens.

Sebastian Franck war ein Pazifist. Er kritisierte das Machtstreben der Fürsten, die er für genauso räuberisch hielt, wie die Tiere auf ihren Wappen. Zur Veränderung der Welt ist aber keine äußere, sondern eine innere Revolution notwendig. Diese findet durch das Hören des inneren Wortes statt, das in jedem Mensch verborgen liegt und das durch die Nachahmung Christi befreit wird. Das Äußerliche (Sakramente, Bilder) auf dem Weg zum Heil hielt Franck dementsprechend für unsinnig. Deswegen schloss er sich auch keiner kirchlichen Gruppierung an. Seine Werke hatten einen großen Einfluss auf den Spiritualismus des späten 16. und des 17. Jahrhunderts.

Johannes vom Kreuz (1542 -1591) war Dichter, Mystiker und Kirchenlehrer. Am 24. Mai 1563 trat er in den Orden der Karmeliten ein und studierte an der Universität Salamanca Theologie und Philosophie. 1567 lernte er Teresa von Ávila kennen, mit der er zusammen Pläne für die Reform des Karmelitenordens schmiedete, da die Ordnung im Karmeliterorden nicht seinen strengen Vorstellungen genügt.

1568 wird er zum Priester geweiht und gründet das Männerkloster der Unbeschuhten Karmeliten in Duruelo. Im Laufe der Zeit entwickelt sich ein Konflikt zwischen den Mitgliedern dieser Gruppe und ihm über die Reform des Ordens. Die Inquisition bringt Johannes wegen der Überschreitung seiner Zuständigkeiten 1578 in ein Ordensgefängnis nach Toledo, wo er auch gefoltert wird.

Diese Zeit wurde für ihn zur eigentlichen Mitte seiner Gotteserfahrung und der daraus entstammenden visionär-mystischen Dichtung. 1675 wurde er allerdings durch Papst Clemens X. selig gesprochen, 1726 erfolgte durch Benedikt XIII. die Heiligsprechung. 1926 wurde er durch Pius XI. sogar zum Kirchenlehrer erhoben.

Meister Eckhart (um 1260 - 1327/1328 in Köln oder Avignon), war einer der bedeutendsten Theologen, Mystiker und Philosophen des christlichen Mittelalters. Ein authentisches Abbild Meister Eckharts existiert ebenso wenig wie eine überlieferte Handschrift.

Frühzeitig, wohl schon um 1275, tritt er in Erfurt in den Dominikanerorden ein. Von 1277 bis 1289 erhält er seine Grundausbildung mit einem Studium artium (der Künste), naturalium (der Naturphilosophie), solemne (der Theologie) und generale (Studium generale), die mit seiner Priesterweihe beendet ist. Um 1290 erfolgt wahrscheinlich die Immatrikulation an der Universität Paris.

1294 wird er Prior des Erfurter Dominikanerklosters und Vikar seines Ordens für Thüringen. 1302 lehrt er wieder in Paris, nun als Magister. 1303–1310 übernimmt Meister Eckhart die Leitung der neugebildeten Ordensprovinz Saxonia und nimmt als Provinzial seinen Sitz wieder am Erfurter Dominikanerkloster. 1311–1313 folgt ein zweites Magisterium in Paris. 1314 wird er Generalvikar des Dominikanerklosters in Straßburg, aus dieser Zeit stammt ein Großteil seiner bekanntesten Schriften, der „Deutschen Predigten“. 1322 übernimmt Meister Eckhart die Leitung seiner alten Ausbildungsstätte, des Studium generale in Köln. Dort wird er 1325 durch Ordensbrüder, vermutlich Hermann de Summo und Wilhelm von Nidecke, die im Jahr darauf auch offiziell als Ankläger in Erscheinung treten, beim Kölner Erzbischof Heinrich II. von Virneburg wegen angeblich häretischer Glaubensaussagen denunziert, woraufhin dieser einen Inquisitionsprozeß gegen Eckhart eröffnet.

Im Verlauf des Herbstes 1326 kommt es zu mehreren Untersuchungsverhandlungen, in denen Eckhart sich zu über hundert von den Inquisitoren inkriminierten Sätzen äußert, die sie in zwei Listen zusammenfassen. Im Februar 1327 widerruft Meister Eckhart in einer öffentlichen Predigt, sofern er Falsches gepredigt haben sollte. Danach begibt er sich nach Avignon, wo es im Herbst/Winter zu einer Anhörung vor einer Theologenkommission kommt, die ein Gutachten abgibt, in denen noch weitere 28 Aussagen bemängelt werden. Wahrscheinlich in Avignon oder auf der Rückreise oder nach dieser in Köln stirbt Meister Eckhart möglicherweise 1328. Ein Jahr später, am 23. März 1329, werden von den inkriminierten 28 Sätzen 17 durch die päpstliche Bulle In agro dominico als häretisch verurteilt, der Wortlaut weiterer 11 Thesen wird kritisiert, da er zu Missverständnissen einlade.

Während bei Thomas von Aquin Gottes Sein sein (Gottes) Denken begründet, ist das Verhältnis in Eckharts quaestiones umgekehrt: „Deus est intelligere“, Gott = Denken. Insofern kann man bei Eckhart von einer Geistphilosophie sprechen. In den Predigten vor den Generalkapiteln sowie in den lectiones zu Jesus Sirach differenziert Meister Eckhart diese Aussagen genauer. Das Sein steht nun nicht mehr im Unterschied zu dem Denken Gottes, sondern ist integrativer Bestandteil: Esse est Deus.

Als allumfassendes Denken ist Gott das Sein allen geschöpflichen Seins, ein Allgrund, der von aller Bestimmbarkeit frei zu halten ist.

Die Schöpfung ist ein inneres Wirken Gottes, der "in sich aus dem Nichts schafft."

Eckharts Denken nimmt viele Einflüsse des letzten großen Systems der griechischen Philosophie auf, des parallel zur christlichen Theologie entstandenen Neuplatonismus. Der Begriff der Gottheit spielt in Eckharts Predigten eine wichtige Rolle. Für ihn ist Gottheit ein „Abgrund des Nichts“. Dies unterscheidet sich von einem Gott, der schulmäßig in Kategorien von Wesen und Sein gedacht wird und so in Entsprechung zu Natur und Seele gesetzt wird. In der neuplatonischen Interpretation ist das Verhältnis Gott-Mensch daher kein Gegenüber von Gott und Mensch.

Wie Gottes Schöpfung eine dynamische Selbstentfaltung ist, so ist auch der Mensch darauf ausgerichtet und dazu aufgefordert, ein „homo divinus“ zu sein, ein göttlicher Mensch.

Im Urgrund jeder Einzelseele befindet sich das göttliche Eine, die Seele ist hier also keine individuelle immaterielle Substanz, die neben oder in dem Sein einer Natur oder Welt existiert. In diesem Urgrund sind vielmehr alle Einzelseelen und überhaupt alles weltliche Sein nicht nur miteinander verbunden, sondern ununterscheidbar eins.

"Wir alle haben die menschliche Natur mit Christus gemeinsam und zwar in gleicher Weise und gleichem Sinne". Der einzelne Mensch als Teilhaber an der allgemeinen Menschennatur kann auf Grund der hypostatischen Union mit Gott Einssein wie Christus. "Der Mensch kann Gott werden, weil Gott Mensch geworden ist und dadurch die menschliche Natur vergöttlichte." Um vergöttlicht zu werden, darf der Mensch sich nicht mehr selbst zum primären Liebesobjekt machen, sondern seine menschliche Natur, die er mit allen Mitmenschen teilt. Daher werden Selbstliebe und Nächstenliebe eins.

Sünde ist bei Eckhart eine willentliche Abkehr von Gott. Sie ist aufgehoben, wenn sich der Mensch im Sinne des „gelassenen Menschen“ wieder Gott zugewandt hat, wenn er seinen Eigenwillen aufgegeben hat, um mit Gott ganz eines Willens und eins zu sein. Eine weitere Korrektur menschlichen Verhaltens, etwa durch Strafe, fordere Gott hingegen nicht. Eckhart hat keinen objektiven Begriff von Schuld. Entscheidend ist für ihn, wie der Mensch selbst mit seiner Schuld umgeht.

Ein wichtiges Thema der deutschen Predigten Eckharts ist die Lehre von der Gottesgeburt in der Seele. Die Gottesgeburt wird nicht im Sinne einer mystischen Entrückung verstanden, sondern beruht auf der Ansicht, dass der Intellekt seiner Natur inne wird, wenn er den göttlichen Grund in sich freilegt.

"Nach Eckhart ist Gott alles, der Mensch nichts." In dem Maße, wie der Mensch dies realisiert, wird er für Gott empfänglich. Die Vergöttlichung des Menschen durch Gott "ist auf Seiten des Menschen an die Bedingung der Preisgabe seiner selbst gebunden. Die Selbstentäußerung des Menschen ist das Spiegelbild der Selbstentäußerung Gottes in der Inkarnation.

Einzig im Erkennen kann der Mensch zum Grunde seiner selbst, zum göttlichen Grund durchbrechen und Gelassenheit erreichen. Dazu darf der Mensch nicht passiv und weltabgewandt bleiben, sondern muss im höchsten Maße aktiv sein und wie Gott, der reine Aktivität ist, aus seinem Inneren tätig werden.

Das Loslassen aller Gedanken und Vorstellungen und allen Wissens – „Willst du Gott auf göttliche Weise wissen, so muss dein Wissen zu einem reinen Unwissen und einem Vergessen deiner selbst und aller Kreaturen werden.“ und „Nichts das durch die Sinne eingebracht wird kann dies bewerkstelligen.“

Vollkommene Ziellosigkeit und Aufgabe des Willens – „Denn ich sage euch bei der ewigen Wahrheit: Solange ihr den Willen habt, den Willen Gottes zu erfüllen, und Verlangen habt nach der Ewigkeit und nach Gott solange seid ihr nicht richtig arm. Denn nur das ist ein armer Mensch, der nichts will und nicht begehrt.“

Aufgabe des dualistischen Denkens – „Das Auge, in dem ich Gott sehe, das ist dasselbe Auge, darin mich Gott sieht; mein Auge und Gottes Auge, das ist ein Auge und ein Erkennen ….“

Entfernen der Zeit aus dem alltäglichen Leben – „Nach der Weise meiner Ungeborenheit kann ich niemals sterben. […]. Was ich meiner Geborenheit nach bin, [...] ist sterblich; darum muss es mit der Zeit verderben.“

Vertiefung der Achtsamkeit – „… dies ist für weise Leute eine Sache des Wissens und für grobsinnige eine Sache des Glaubens“

Die Folge des Loslassens von Wissen, Willen, Zeit, Ich, usw. ist eine tiefe Gelassenheit. „Wer Gott im Sein hat […] dem schmecken alle Dinge nach Gott.“

Meister Eckhart betont dabei, dass das Einüben dieses „Geisteszustandes“ gewöhnlich nur durch langjährige Übung erreicht wird und vergleicht es mit dem Erlernen von Lesen und Schreiben. Obwohl zur damaligen Zeit das kontemplative Gebet in der Bevölkerung stärker verbreitet war als heute, hat die Radikalität seiner Aussagen zum Konflikt mit der päpstlichen Kurie geführt. In der Moderne mögen seine Anleitungen noch schwieriger nachzuvollziehen sein, da Orientierung an „Zeit“ und Verstand die Lebensverhältnisse stark dominieren.

Die Forderung nach Gelassenheit hat, wie Eckhart selbst immer wieder betont, weitreichende Konsequenzen für das moralische Tun. Es findet seinen Zweck in sich selbst, wenn der Mensch den göttlichen Selbstzweck zu seiner inneren Haltung macht. Eckharts Ethik ist keine Verhaltensethik, sondern eine Haltungsethik (D. Mieth). Maßstab für ethisches Handeln ist Gesinnung und Einsicht, nicht eine typisierende Vorschrift oder eine reine Folgenabschätzung. Denn der Mensch besitzt aus Gott eine moralische Autonomie.

Nächstenliebe ist der Wandel von einem eigennützigen zu einem uneigennützigen Leben als unmittelbare Folge von Gelassenheit.

Die Grundlage der Nächstenliebe ist die Gerechtigkeit. Hierunter versteht Eckhart keine Verhaltensgerechtigkeit, sondern den Wandel von einer Haltung des Gebens zu einer Haltung des Empfangens: Gerecht ist derjenige, der alle Dinge gleich empfängt, der mit Gelassenheit den Willen Gottes in allem, was ihm widerfährt, hinnimmt. Nur dann ist der Mensch zu einem gerechten Handeln in der Lage, wenn er mit Gott eines Sinnes ist und die göttliche Gerechtigkeit im Inneren angenommen hat. Im Gerechten ist die Gerechtigkeit selbst.

Als Mitte des 20. Jahrhunderts Daisetz Suzuki den Buddhismus in Europa bekannt machte, schrieb er über die Predigten von Meister Eckhart: „Die darin geäußerten Gedanken waren buddhistischen Vorstellungen so nahe, dass man sie fast mit Bestimmtheit als Ausfluß buddhistischer Spekulation hätte bezeichnen können.“

„Die Leute sagen oft zu mir: "Bittet für mich!" Dann denke ich:" Warum geht ihr von euch weg - warum bleibt ihr nicht in euch selbst und nutzt eure eigene Kraft? Ihr tragt doch alle Wahrheit wesenhaft in euch."

„Gott ist ein Gott der Gegenwart.“

„Die Menschen sollten nicht so viel nachdenken, was sie tun sollten, sie sollten vielmehr beachten, was sie sind.“

 

Sufismus

Die Anhänger des Sufismus sehen ihre Lehre nicht als ein spirituelles Produkt der islamischen Religion, sondern er offenbart lediglich die esoterische Wahrheit des Islam. Die sufische Lehre als solche ziehe sich durch die gesamte Menschheitsgeschichte, aus der Sicht vieler Sufis ist und war diese zu jeder Zeit und in jeder Kultur in verschiedenen Aspekten allgegenwärtig.

Der Sufismus wird manchmal mit dem Gnostizismus in Verbindung gebracht, wobei die Sufis eigentlich unabhängig von einer Religionszugehörigkeit sind und diese Bewegung schon weitaus älter ist als der geschichtliche Islam. Die ersten Sufis soll es nach muslimischer Tradition schon zu Lebzeiten des Propheten Mohammed im 7. Jahrhundert gegeben haben. Sie waren oft einzelne Asketen, der bekannteste unter ihnen ist Uwais al-Qarani aus dem Jemen, der als Einsiedler in der Wüste lebte. Ein sehr einflussreicher früher Sufi war der Asket Hasan al-Basri (642–728). Ebenfalls in der Stadt Basra (im heutigen Irak) lebte und wirkte Rabia al-Adawiyya (714 oder 717/718–801), eine der bedeutendsten weiblichen Sufi-Heiligen. Es wird angenommen, dass sie nie einen Lehrer hatte, und sie wird als eine „trunkene Gottesliebende“ bezeichnet, die als eine strenge Asketin lebte

Im 9. Jahrhundert war Dhu'n-Nun al-Misri († 859) einer der ersten Sufis, der eine Theorie über „Fana“ (arab. für Auflösung) und „Baqa“ (arab. für Bestehen) entwickelte, eine Lehre über die Vernichtung bzw. Auflösung des Selbst (nafs). Außerdem formulierte er die Theorie von Ma'rifa (intuitive Gotteserkenntnis). Durch seine poetischen Gebete führte er einen neuen Stil in die ernste und asketische Frömmigkeit der damaligen Sufis ein. Er vernahm – dem koranischen Wort getreu – aus allem Geschaffenen den Lobpreis Gottes und beeinflusste so die späteren Naturschilderungen persischer und türkischer Sufis.

Bayazid Bistami (803-875), aus Bistam im heutigen Iran, hielt vor allem die Liebe für das Wichtigste, um die Einheit mit Gott zu erreichen. Darüber hinaus erlangte er den Zustand von absolutem Einssein mit dem Schöpfer durch strenge Selbstkasteiung und Entbehrungen.

Einen eher nüchternen Weg des Sufismus vertrat Dschunaid (gest. 910) aus Bagdad, welches zur damaligen Zeit als ein religiöses und spirituelles Zentrum galt. Er hatte durch seine Lehre einen großen Einfluss auf spätere Sufis, er betonte die Liebe, die Vereinigung und die Übergabe des individuellen Willens an den Willen Gottes.

Zur damaligen Zeit betrachtete die islamische Orthodoxie bereits die Aktivitäten der Sufis mit wachsendem Misstrauen aus diesem Grund lehnte Dschunaid seinen Schüler Mansur al-Halladsch (858–922), ebenfalls ein Perser, ab, der die Geheimnisse des Sufipfades in aller Öffentlichkeit aussprach. Von diesem stammt einer der bekanntesten Aussprüche eines Sufis: "ana al-Haqq". Dieser Ausspruch, übersetzt "Ich bin die Wahrheit", wobei Haqq nicht nur Wahrheit bedeutet, sondern auch einer der Namen Gottes ist. Somit kann man auch übersetzen: "Ich bin Gott". Dies und sein provokantes Auftreten waren einige der Gründe, warum al-Halladsch schließlich als erster Sufi-Martyrer hingerichtet worden ist.

Neben anderen Sufis hat wohl Rumi am besten zum Ausdruck gebracht, dass "ana al-Haqq" die konsequenteste Auslegung von der Einheit Gottes ist. Hätte al-Halladsch gesagt "Er ist Gott", dann hätte dies zwangsläufig zu einer Dualität geführt, da es dann nicht nur Gott, sondern auch einen zweiten gegeben hätte, nämlich al-Halladsch, der dies äußert.

Ein wichtiger Vertreter des Sufismus ist al-Ghazali (gest. 1111), auch er ein Perser, der einer der ersten war, der seine Ideen zu einem mystischen System ordnete. Der ursprüngliche Rechtsgelehrte erkannte eines Tages, dass er nur durch eine der Welt entsagende Lebensweise wirklich zu Gott finden könne.

Durch Abmilderung des radikalen Asketismus der frühen Sufis und Systematisierung des sufischen Gedankenguts trug al-Ghazali maßgeblich zur allgemeinen Anerkennung des Sufismus im Islam bei. Er lehnte eine starre Dogmatik ab und lehrte den Weg zu einem Gottesbewusstsein, das aus dem Herzen entspringt. Ein zentraler Punkt bei al-Ghazali ist die Arbeit am "feinstofflichen Herzen". Der Lehre al-Ghazalis gemäß besitzen die Menschen in ihrer Brust ein "feinstoffliches Herz", das in der Welt der Engel beheimatet ist. Dieses Organ ist in der grobstofflichen Welt im Asyl und weist den Menschen den Weg ins Paradies zurück.

Es wird heutzutage von den meisten Historikern angenommen, dass die erste Sufi-Ordensgemeinschaft (Tariqa) im 12. Jahrhundert von Abd al-Qadir al-Dschilani (1088 oder 1077–1166) gegründet wurde. Eine der bekanntesten Tariqas ist die der Mevlevis, die auf den Sufipoeten Dschalal ad-Din Rumi zurückgeht.

Der Sufismus ist in den Augen der Sufis immer lebendig geblieben und hat seine Dynamik bewahrt, weil er sich stets den Zeiten anpasst und sich dementsprechend wandelt. Gleichzeitig bleibt er aber der Essenz der Tradition treu, die die innere Ausrichtung des Herzens auf Gott sowie das Aufgeben des Ego ist. Da Gesellschaften und Kulturen sich ständig weiterentwickeln und verändern, antwortet auch der Sufismus äußerlich gesehen auf diese Veränderungen.

„Sufismus ist die alte Weisheit des Herzens.
Er ist nicht durch Form, Zeit oder Raum begrenzt.
Er war immer und wird immer sein.“
Llewellyn Vaughan-Lee

Ihr Weg folgt vier Stufen, die auf die Prägung aus dem indischen Raum verweisen; bis heute ist jedoch offen, wie und in welche Richtung diese Beeinflussung historisch verlief:
Auslöschen der sinnlichen Wahrnehmung.
Aufgabe des Verhaftetseins an individuelle Eigenschaften.
Sterben des Ego.
Auflösung in das göttliche Prinzip.

Das oberste Ziel der Sufis ist, Gott so nahe zu kommen wie möglich und dabei die eigenen Wünsche zurückzulassen. Dabei wird Gott bzw. die Wahrheit als „der Geliebte“ erfahren. Der Kern des Sufismus ist demnach die innere Beziehung zwischen dem „Liebenden“ (Sufi) und dem „Geliebten“ (Gott). Durch die Liebe wird der Sufi zu Gott geführt, wobei der Suchende danach strebt, die Wahrheit schon in diesem Leben zu erfahren und nicht erst auf das Jenseits zu warten. Dies spiegelt sich klar in dem Prinzip zu sterben bevor man stirbt wieder, das überall im Sufismus verfolgt wird. Hierzu versuchen die Sufis, die Triebe der niederen Seele bzw. des tyrannischen Ego (an-nafs al-ammara) so zu bekämpfen, dass sie in positive Eigenschaften umgeformt werden. Auf diese Weise kann man einzelne Stationen durchlaufen, deren höchste die reine Seele (an-nafs al-safiya) ist. Diese letzte Stufe bleibt jedoch ausschließlich den Propheten und den vollkommensten Heiligen vorbehalten.

Die mystische Gotteserfahrung ist der Zustand des Einsseins (tauhid) mit Gott, die sogenannte „unio mystica“.

Dazu ein Zitat von Abu Nasr as-Sarradsch, einem Zeitgenossen des bekannten islamischen Mystikers Dschunaid: „Sufismus bedeutet, nichts zu besitzen und von nichts besessen zu werden.“

Ein wichtiger Aspekt der sufischen Lehre ist außerdem, dass man die „Wahrheit“ erfährt und nicht nur intellektuell erfasst. Gemäß dem Grundsatz „Den Glauben sieht man in den Taten“ ist es für die Sufis entscheidend, oft eher mit gutem Beispiel in der Welt aufzutreten als über den Glauben zu reden. Darüber hinaus ist „Aufrichtigkeit“ unentbehrlich und man sollte versuchen, nach außen hin so rein zu werden, wie man es auch nach innen hin anstrebt.

Viele Sufis, so sie nicht Anhänger einer strengen Scharia sind, glauben, dass in allen Religionen eine grundlegende Wahrheit zu finden ist und dass die großen Religionen von ihrem Wesen/Geist her dasselbe sind. Manche Sufis gehen deswegen sogar so weit, dass sie den Sufismus nicht innerhalb des Islams (also einer Religion) angesiedelt sehen, sondern dass die Mystik über der Religion steht, ja diese sogar bedingt.

Entgegen der Meinung von Sufismus-Kritikern wird ein authentischer Sheikh nie die Personenverehrung fördern. Er zieht zwar als Lehrer die Aufmerksamkeit auf sich, aber dann wird er von sich weg zum Ewigen (= Allah) weisen. Es ist deshalb die Aufgabe des Sheikhs zu verhindern, dass der Schüler sich dem Ego (vgl. nafs) oder der Persönlichkeit des Lehrers hingibt.

Im Sufismus wird oft das Symbol der Rose gebraucht. Diese stellt die oben genannten Stufen auf dem Weg eines Derwischs folgenderweise dar: Die Dornen stehen für die Schari'a, das islamische Gesetz, der Stängel ist Tariqa, der Weg. Die Blüte gilt als Symbol für Haqiqa, der Wahrheit, die schließlich den Duft, Ma'rifa, die Erkenntnis, in sich trägt.

Isa bin Maryam (Jesus von Nazaret) wird im Islam als der Prophet der Liebe gesehen. Deshalb wird er oft auch als der Prophet der Sufis bezeichnet.

Die Sufis suchen durch tägliche regelmäßige Meditation (Dhikr, das bedeutet „Gedenken“, also „Gedenken an Gott“, bzw. Dhikrullah) Gott nahe zu kommen oder mit Gott schon im irdischen Leben eins zu werden.

Der Sufismus bietet also dem Suchenden nicht zuletzt durch den Dhikr eine Möglichkeit, das Göttliche in sich zu finden, bzw. wiederzuentdecken. Die Sufis glauben, dass Gott in jeden Menschen einen göttlichen Funken gelegt hat, der im tiefsten Herzen verborgen ist. Gleichzeitig wird dieser Funke auch durch die Liebe zu allem, was nicht Gott ist, verschleiert, genauso wie durch die Aufmerksamkeit gegenüber den Banalitäten der (materiellen) Welt, sowie durch Achtlosigkeit und Vergesslichkeit. Laut dem Propheten Muhammad sagt Gott zu den Menschen: „Es gibt siebzigtausend Schleier zwischen euch und Mir, aber keinen zwischen Mir und euch.“

Auch bildeten sich gegen Ende des 20. Jahrhunderts im Westen Orden nach sufischem Vorbild oder Ableger traditioneller Sufiorden, die teilweise auch nicht-muslimische Mitglieder akzeptieren. Manche vertreten sogar einen Sufismus ohne jeglichen Bezug zum Islam, was man am ehesten als einen universellen Sufismus bezeichnen kann.

Vor allem Osho übernahm in seinen auf den westlichen Menschen zugeschnittenen Mediationen und Therapien zahlreiche Elemente aus dem Sufismus.

Kritik am Sufismus wird größtenteils von muslimisch-orthodoxer Seite her geübt. Die Musik war und ist oftmals ein Kritikpunkt der orthodoxen Gelehrten gegenüber der Sufis, weil sie nicht mit der koranischen Offenbarung vereinbar sei. Sie vertreten die Meinung, Musik - und vor allem auch Tanz und dadurch auch dem Tanz ähnliche Formen des Dhikr - sei heidnischen Ursprungs und daher unislamisch.

Für einen Sufi ist Weisheit die Kunst gegenüber der Meinung anderer offen und gegenüber ihren vorgefassten Meinungen tolerant zu sein, während er das eigene Verständnis vor den Begrenzungen durch Dogmen zu bewahren versucht.

Für einen Sufi ist Religion der Weg der Befreiung aus der Gefangenschaft in der Illusion, die entsteht, wenn er sich die Einheit der Liebe, der menschlichen wie der göttlichen, als Dualität vorstellt.

Für einen Sufi ist Spiritualität der Prozess, alle Aspekte der Selbstbehauptung wegzuräumen,  während er zur selben Zeit nach dem göttlichen Impuls in sich selbst sucht, der die Quelle und das Ziel aller Schöpfung ist.

Für einen Sufi ist Mystik ein inneres Erwachen zur Realität des Undefinierbaren, die erfahren wird, wenn die Stimme des Herzens laut ruft: "Dies ist nicht mein Körper, dies ist der Tempel Gottes."

Es folgen nun Textausschnitte von Hidayat Inayat Khan:

Eine Einweihung findet im wahren Sinne des Wortes, wie es auf dem geistigen Pfad gebraucht wird, dann statt, wenn ein Mensch ohne Rücksicht auf seinen Glauben und seine Vorstellung über spirituelle Fragen fühlt, dass er einen Schritt vorwärts tun sollte in eine Richtung, die er nicht kennt. Wenn er diesen Schritt wagt, ist es eine Einweihung. Al Ghazzali, der grosse persische Sufi-Mystiker, hat gesagt: "Das Betreten des geistigen Pfades gleicht dem Abschiessen eines Pfeils auf ein unsicheres Ziel, so dass man nicht weiss, was der Pfeil treffen wird." Darum ist der Pfad der Einweihung für die meisten Menschen so schwierig. Es liegt in der Natur des Menschen, dass er alles wissen möchte. Er möchte etwas berühren können, um sicher zu sein, dass es existiert. Es muss für seine physischen Sinne wahrnehmbar sein, ehe er glaubt, dass es existiert. Darum ist es so schwierig für ihn, den spirituellen Pfad zu beschreiten, der keinen seiner Sinne berührt. Er weiss nicht, wohin er gehen wird.

Die Wahrheit ist einfach. Doch gerade ihrer Einfachheit halber wollen die Menschen nichts von ihr wissen. In unserem Erdenleben haben wir für alles, was wir schätzen, einen hohen Preis zu zahlen, um es zu erwerben. Der Mensch fragt sich daher, wieso es kommt, daß man die Wahrheit, wenn sie wirklich das kostbarste aller Güter ist, auf so einfache Weise erlangen kann. In diesem Wahn befangen, lehnt jedermann die Wahrheit in ihrer Einfachheit ab und sucht nach verwickelten Dingen. Man erzähle den Leuten Dinge, daß es ihnen wie ein Mühlrad im Kopfe herumgeht - selbst wenn sie nichts verstehen, werden sie mit Freude denken: "Das sind doch gehaltvolle, kräftige Worte! Zwar verstehe ich die Idee nicht, aber sie muß erhaben sein." Aber was jedermann weiß, was sich in jeder Seele als göttlich erweist - die Seele kann nicht anders als es wissen -, das scheint zu billig zu sein, weil es die Seele schon weiß. Es gibt zweierlei: Wissen und Sein. Es ist leicht, die Wahrheit zu wissen, aber sehr schwer, Wahrheit zu sein. Nicht im Wissen um die Wahrheit erfüllt sich der Zweck des Lebens; er erfüllt sich dadurch, daß man Wahrheit ist.

Persönlichkeit ist das Geheimnis des ganzen Lebens. In der Entwicklung der Persönlichkeit ist es nicht notwendig, die psychischen oder okkulten Fähigkeiten zuerst zu fördern. Der Beginn der Entwicklung geschieht auf natürliche Weise. Doch zweierlei ist bei der Entwicklung der Persönlichkeit notwendig: der Sinn für Schönheit und das Bewahren der Aufrichtigkeit.

Man kann den Schönheitssinn definieren als ein sich zu Eigen machen von allem, was im Denken, Reden und Tun als schön erscheint. Für gewöhnlich schätzt man an anderen alles Schöne, übersieht jedoch den Mangel an dieser Schönheit in den eigenen Gedanken, Reden und Handlungen. So wird man z. B. die ehrerbietige, bescheidene, liebenswürdige Haltung, die ein anderer einem entgegenbringt zu schätzen wissen, aber den eigenen Mangel an solcher Haltung andern gegenüber nicht bemerken

Dafür gibt es zwei Gründe. Der eine besteht darin, dass der Mensch vorwiegend nach aussen schaut anstatt nach innen und einen anderen erblickt, eher er sich selber sieht. Der andere liegt daran, dass der Mensch von Natur aus selbstsüchtig ist. Er beansprucht alles Gute für sich selbst und verschwendet kaum einen Gedanken daran, diese Dinge auch anderen zukommen zu lassen. Die Tatsache, dass alles im Leben ein natürlicher Widerhall ist, nämlich dass man früher oder später zurückerhält, was man gegeben hat, ist ihm unbekannt. Diese Unkenntnis macht ihn rücksichtslos.

Durch einen tieferen Eindruck ins Leben stellen wir fest, das uns am meisten im Leben stört; es ist das Ego, das die meisten Misstöne ins Leben bringt. Wer die rechte Art der Entfaltung der Persönlichkeit kennt, weiss, dass die erste Aufgabe im Leben darin besteht, das Ego so weit wie möglich auszulöschen. Christus sagt: "Selig sind die Armen im Geiste." Geistige Armut bedeutet, dass das Ego gemildert worden ist. Das Denken, Reden und Handeln eines Menschen, dessen Ego gemildert worden ist, bekommt einen gewissen Zauber. Manchmal zeigt ein Mensch nach erlittenen Enttäuschungen und Leiden in seinem Wesen einen gewissen Charme. Dieser Charme rührt von der Milderung des Egos her. Indessen ist jede Tugend, die sich unter dem Einfluss des Lebens von selbst entwickelt hat, nicht im gleichen Sinne eine Tugend wie durch eigene Anstrengung erworbene.

Jede schöne Handlung oder Rede, jeder schöne Gedanke ist durch das Auslöschen des Egos entstanden. So bedingt z. B. jede Höflichkeitsbezeugung ein Zügeln des Egos. Schönheit der Rede beruht immer auf eben diesem Zurücknehmen des Egos, und ebenso verhält es sich mit den Gedanken. Sobald ein Gedanke sich unbeherrscht äußert, verletzt es das Ego eines anderen. Bei den niederen Geschöpfen wird die Neigung zu kämpfen nur durch das Ego verursacht, und der Mensch besitzt diese Neigung nicht im geringeren, sondern eher im größeren Maße. Diese Neigung schafft sowohl im Leben des Einzelnen, wie in dem der Menge Unruhe und Aufruhr. Die Familienfehden der Vergangenheit, wie die heutigen Kriege stammen alle aus derselben Quelle, dem Ego.

Der Gedanke der Selbstverleugnung im Christentum drückt, - wenn richtig betrachtet - eher die Idee der Überwindung des Egos als die Entsagung aus. Menschen, in deren Nähe wir uns wohl, entspannt und friedlich fühlen, haben immer ein sanftes Ego. Je größer ein Mensch ist, desto feiner ist sei Ego. Es kann dafür kein größeres Beispiel geben als Jesus, wie er die Füsse seiner Jünger wäscht.

Was des Menschen Ego bildet, das ist jegliche Art von Befriedigung des Egos, was es bricht, ist Geduld und Entsagung. Zur Frage, ob es ratsam sei, das Ego so zu zerstören, dass ein so verfeinerter Mensch von anderen übervorteilt werden kann, ist zu sagen, dass es nicht notwendig ist, dem Ego entgegen zu arbeiten, doch soll man es beherrschen.

Es wäre nicht übertrieben, wenn ich sage, dass des Menschen grösster Feind sein Ego ist, sein eigenes ich. Wenn er es nicht beherrscht, dient sein Denken, Reden und Handeln der Befriedigung seines Egos. Je mehr er es befriedigt, desto mehr verlangt es von ihm und ist doch nie zufrieden. Kein anderer besitzt im Leben solche Macht, den Menschen zu versklaven, wie sein eigenes Ego.

In Wahrheit ist der Mensch von göttlicher Essenz, und weil er das ist, hat er das Recht, Herrscher seines eigenen Lebens zu sein, das sein eigenes Reich ist. Durch die Befriedung seines Egos fällt der Mensch aus der Herrscherwürde in die Sklaverei, und am Ende wird ihm sein eigenes Leben zur Last. Um sein eigenes Königreich zu gewinnen, muss er die Illusion zerstören, dass er durch die Befriedigung seines Egos seine Macht kundtue; er befriedigt seinen Feind, wenn er sein Ego zufrieden stellt. Ein persischer Dichter sagt: "Jedes Mal, wenn ich mit meinem Feind Frieden schließe, hat er die Gelegenheit, sich zu neuem Kampf zu rüsten."

Der große Kampf, den die Sufis, die Heiligen und die Yogis kämpfen, ist der Kampf mit dem Ego. Aber der Heilige kämpft mit seinem eigenen Ego, während der Durchschnittsmensch mit dem Ego anderer Leute kämpft. Der Unterschied im Ergebnis der beiden Kämpfe besteht darin, dass Sieg und Niederlage des Durchschnittsmenschen vorübergehend ist, aber der Sieg des Heiligen ewig ist. Der erstere, sobald er einen Kampf beendet hat, muss einen neuen beginnen, während der letztere, wenn es ihm einmal gelang, siegreich ist. Und schließlich ist alles, was der erstere gewinnt, nicht sein eigen, weil sein Königreich nicht sein eigen ist. Aber der Heilige ist König in seinem eigenen Königreich.

Das Ego wird vom Sufi genauso trainiert wie ein Pferd von seinem Reiter. Ein Zaum wird ihm angelegt und sein Herr hält die Zügel in der Hand. Dieses Training nennen die Hindus Yoga, d. h. mit Hilfe der Enthaltsamkeit die Beherrschung des Ichs zu erlangen. Oft, wenn ein Mensch unrecht tut, möchte er dies gar nicht tun, sondern er ist nicht fähig, sich von solchem Tun zurückzuhalten. In erster Linie ist Unrecht tun fast immer die Folge von Gelüsten und Leidenschaften oder dem Befriedigen der Eitelkeit. Deshalb wurde von den Mystikern oft das Fasten und besondere Körperhaltungen geübt. Je mehr man den Leidenschaften und Gelüsten nachgibt, desto mehr wird man deren Sklave, bis man in einen Zustand gerät, in dem man gegen das eigene Gewissen redet und handelt. Untugenden, wie Betrug, Schmeichlerei, Falschheit und alle anderen ihresgleichen rühren von Mangel an Willenskraft her und von der Widerstandslosigkeit gegenüber den Leidenschaften. Um das Ego zu schulen, ist es nicht unbedingt nötig, sich aller physischen Wünsche zu enthalten.

Der Gedanke ist, ein Verlangen zu beherrschen, anstatt sich von ihm beherrschen zu lassen. Die Klage einer jeden Seele und die Reue jeder Seele hat immer den gleichen Grund: die Versklavung des Menschen durch das Nachgeben gegenüber seinen Begierden. Wenn man sich mit der Begierde identifiziert, erlaubt man ihr, einen zu beherrschen. Und man bemitleidet sich selbst, was die Sache noch schlimmer macht. Das Verlangen nach einem momentanen Genuss wird zu einer Entschuldigung für das Nachgeben. So schiebt z. B. jemand, der zu spät aufsteht, die Schuld auf die Kälte: er habe nicht anders können wegen der Kälte, sagt er. Der Verstand liefert immer und für alles eine Entschuldigung. Aber den Konsequenzen kann man nicht entgehen, und die Reue, die folgt, beweist, dass ein Fehler begangen wurde.

Hat ein Mensch sich einmal an seine Fehler gewöhnt, stumpft sein Gefühl dafür ab, und er hat keine Skrupel mehr. Er wird dann zu einem Sklaven seiner Fehler und gleicht einem Wurm. Die Fehler werden zu seinen Lebensgewohnheiten. Darum bedeutet in der Sprache der Hindus das Wort für Hölle ein Ort voller Würmer. Mit anderen Worten: man nährt sich von seinen Fehlern, und die Fehler finden ihre Nahrung in einem. Bei genauer Beobachtung sind derartige Fälle nicht selten.

Zu den notwendigsten Dingen im Leben eines Adepten gehört es, dass er Bewusstsein und Leib für das spirituelle Leben bereit macht. Mit anderen Worten, man muss zu seinem natürlichen Selbst werden, ehe man die Wanderung auf dem geistigen Pfad beginnt. Was die Strenggläubigen "Reinheit" nennen, ist eben diese Natürlichkeit. Reines Wasser oder reine Milch heisst Wasser oder Milch in dem ihm eigenen Zustand. Sobald einem Objekt eine andere Substanz beigemischt wird, verliert es seine Reinheit. Spirituell werden bedeutet, dass eigene Bewusstsein von den fremden Bestandteilen reinigen, die sein natürliches Empfinden beeinträchtigen.

Konzentration, Kontemplation und Meditation tragen alle dazu bei, das Bewusstsein wieder natürlich werden zu lassen, aber die Mittler, deren sich der Geist bedient, um das Leben zu erfahren, müssen ihm helfen, natürlich zu werden. Diese Mittler sind er Bewusstsein und der Leib. Wie hervorragend auch ein Musiker sein mag, wenn sein Instrument verstimmt ist, kann er nichts damit anfangen. Auch ist es nicht richtig, dass es nur auf den Geist ankomme, und dass der Leib nicht zähle. Vielmehr ist es notwendig, dass Bewusstsein und den Leib zuerst zu tauglichen Mittlern des Geistes gemacht werden.

Der Leib soll als Tempel Gottes betrachtet werden, und dieses heilige Gotteshaus muss auf jede Weise gereinigt werden. Dann spiegelt sich Gottes Licht darin.

Tiere und Vögel haben alle das Bedürfnis, sauber rein zu sein, und für den Menschen ist es notwendig, dieses Bedürfnis zu fördern. Das hilft nicht nur auf dem geistigen Pfad, sondern auch bei der Entwicklung des Bewusstseins…. Um Glücklich zu werden, ist es vor allem notwendig, das Bewusstsein von all dem zu reinigen, was es stört und Disharmonie verursacht. Es sind nicht nur schlechte Eindrücke, die seine Ruhe stören, sondern auch viele Gefühle des Grolls und des Widerstands gegen Dinge, die mit unseren eigenen Vorstellungen nicht übereinstimmen.

Der Sufi trachtet danach, die Harmonie mit seiner Umgebung zu bewahren, was manches Opfer verlangt. Es lässt einen ertragen, was man nicht bereitwillig erträgt; es lässt einen übersehen, was man nicht gern übersieht; es lässt einen tolerieren, was man nicht gewohnt ist zu tolerieren, und es lässt einen vergeben und vergessen, was man nie vergessen würde, wäre es nicht um der Harmonie willen. Doch zu welchem Preis auch die Harmonie erreicht wurde, so ist es doch ein guter Handel; denn Harmonie ist das Geheimnis des Glückes. Ohne sie kann ein Mensch ein einem Palast von allem Reichtum umgeben leben und doch äusserst unglücklich sein.

Häufig versucht man, einer Disharmonie zu entkommen. Aber Disharmonie hat einen bemerkenswerten Zauber. Wenn man ihr im Osten entgehen möchte, begegnet man ihr im Westen. Sie verlässt einen Menschen niemals; wen sie liebt, dem folgt sie. Die beste Art der Disharmonie zu begegnen, besteht in dem Versuch, sie zu harmonisieren.

Es ist sehr schwer, sich selbst zu entwickeln und gleichzeitig mit unentwickelten Menschen in Harmonie zu bleiben. Es ist, als ob gleichzeitig von oben und von unten an einem gezogen würde.

Es gibt keine Schönheit ohne Harmonie; Harmonie ist die Frucht der Liebe. Deshalb gelangt man durch die erreichte Harmonie im Leben zur Vollkommenheit von Liebe, Harmonie und Schönheit.

Es existiert eine reichhaltige Literatur von Sufis bzw. über den Sufismus. Ergänzend muss erwähnt werden, dass die Sufis selber sagen: „Es gibt viele Bücher über den Sufismus, aber man kann den Sufismus nicht in Büchern finden.“

http://www.sufismus.de/index_de.htm

„In Wirklichkeit findet man Freiheit nicht durch Konsum oder Glauben,
sondern in der Erweiterung des Bewusstseins.“
Pir Zia Inayat Khan
www.sufiorden.de